Musik und Ästhetik vol.4 n°16, Stuttgart, 2000, p. 80-89 .
ABSTRACT
Die neuesten Entwicklungen der zeitgenössischen Musik in Frankreich -- Dieser Artikel versucht die neuesten Entwicklungen der zeitgenössischen Musik in Frankreich (seit den achtziger Jahren) zusammenzufassen. Zunächst wird eine kurze Aufzäh-lung der Haupttendenzen der Moderne geboten, die die Jahre von 1950 bis 1970 charakterisieren und deren letzte, die sogenannte “spektrale” Musik, erste Lockerungs- und Auflösungssymptome zeigt. Sie wird fortgesetzt mit einer Analyse des ideologischen Gebrauchs (im Sinne der kritischen Theorie) des Begriffs der künstlerischen Moderne im Frankreich der Jahre 1950-80, also mit einer Analyse der politisch-ökonomischen Bedingungen der zeitgenössischen Musik während dieser Phase; es werden dann die jüngsten Veränderungen dieser Bedingungen namhaft gemacht, unter denen die allmähliche Aufgabe der Bezugnahme auf die Moderne in eine Art >Lokalisierung< des musikalischen Schaffens einmündet. Es folgt der Versuch einer (vorläufigen und nicht-homogenen) Typologie der neuesten musikalischen Tendenzen (seit dem Ende der achtziger Jahre): der Entwicklung der elektroakustischen Musik, die ihrer Selbstauflösung entgegenstrebt, und der Entwicklung der >gemischten< Musik; der >zweiten Generation< spektraler Komponisten; eines Beginns von Neoklassizismus, der aufgrund Bestrebens der Verankerung der zeitgenössischen Musik in der großen klassischen Tradition immer bestimmender wird; einer noch minoritären Tendenz zur Mischung von Stilen. Der Artikel schließt mit einigen Bemerkungen zu einer geistigen Einstellung, die allen diesen Tendenzen möglicherweise gemeinsam ist: einer Rückkehr zur Idee des Ausdrucks.
Frankreich ist eines der wenigen Länder, das über eine solide Tradition zeitgenössischer Musik verfügt, das heißt einer Musik, die in die Moderne des 20. Jahrhunderts eingebettet ist. Zwar hat die Moderne sich hier nicht ohne Schlachten durchgesetzt -- denken wir nur an den Neoklassizismus der Zwischenkriegszeit, der ein >Loch< zwischen den Neuerungen Debussys und der Generation der in den zwanziger Jahren geborenen modernen Wilden hinterlassen hat. Dennoch hat die zeitgenössische Musik seit etwa 1950 hier, mehr als in jedem anderen Land, zahlreiche Schlachten gewonnen, eine Tatsache, die vielleicht erklärt, warum man heute darauf verfallen ist, von >modernistischem Akademismus< zu sprechen. Jeder, der die jüngste Situation verstehen möchte, sollte also mit einem Stammbaum dieser Vorfahren beginnen, eine Aufgabe, die hier nur in äußerster Schematisierung bewältigt werden kann, und zwar in Gestalt von vier sehr vereinfachten Tendenzen:
1.) Die erste und bei weitem bedeutendste durchzieht das ganze Jahrhundert. Sie konzentriert sich auf den Klang, auf dessen Präsenz und Fülle: Mit ihr tritt die Komposition des Klanges allmählich an die Stelle derjenigen mit Klängen. Von Claude Debussy inauguriert, hat sich diese Tendenz mit Edgar Varèse radikalisiert. Sie setzt sich dauerhaft seit den fünfziger Jahren durch mit Iannis Xenakis und dem Beginn der konkreten Musik im Umkreis von Pierre Schaeffer und Pierre Henry. Sie findet ihre Fortsetzung bei Komponisten wie Luc Ferrari (* 1929), François Bayle (* 1932) oder François-Bernard Mâche (* 1935), nimmt einen erneuten Aufschwung mit den Untersuchungen zur Klangsynthese bei Jean-Claude Risset (* 1938) und mündet Ende der siebziger Jahre in die sogenannte “spektrale” Schule mit Hugues Dufourt (* 1943), Gérard Grisey (1946-1998) und Tristan Murail (* 1947). Diese Tradition hat auch von den fernöstlichen Beiträgen eines Jean-Claude Eloy (* 1938) oder eines Yoshihisa Taïra (* 1938) profitiert.
2.) Eine zweite Tendenz kann als Gegenbewegung begriffen werden und ist um die Dekomposition des Klanges in >Parameter< und die Suche nach >Strukturen< zentriert: der Serialismus, wie er sich in Pierre Boulez (* 1925), Jean Barraqué (1928-73), Gilbert Amy (* 1936) und jüngst Emmanuel Nunes (* 1941) verkörpert. In den fünfziger Jahren als >Universalsprache< durchgesetzt und angesichts der intensiven Öffentlichkeitsarbeit von Boulez, erschien diese minoritäre Tendenz lange Zeit in Frankreich als main stream der zeitgenössischen Musik.
3.) Eine dritte Strömung umfaßt die anarchistischen Öffnungen der Jahre 1960-70, die aus der Problematik des >offenen Kunstwerkes< erwuchsen und sich in Richtung Musiktheater bzw. Improvisation fortentwickelten. Da die darauf folgende Restauration völlig unbarmherzig war, konnten nur wenige Namen (etwa André Boucourechliev [1925-1997] oder Vinko Globokar [* 1934]) überleben.
4.) Eine letzte Tendenz definiert sich durch den Willen zur Versöhnung der Moderne mit der Tradition. Sie manifestiert sich auf vielgestaltige Weise in den Werken von Olivier Messiaen (1908-1992), Maurice Ohana (1914-1992), Henri Dutilleux (* 1916) oder Claude Ballif (* 1924).
Hier müßte man die Weiterentwicklung der -- zur Mitte der siebziger Jahre auftauchenden -- letzten Strömung dieser modernistischen Tradition nachzeichnen, der Spektralismus, denn er spielt eine entscheidende Rolle für die allerjüngste Musik (seit Mitte der achtziger Jahre). Es sei lediglich festgehalten, daß sie als Wegkreuzung aufgefaßt werden kann, von der aus sich ein Ausgang aus der Moderne abzeichnet, gleichwohl sie in der Moderne eingebettet ist. Obwohl sie dem Serialismus -- für manche das Symbol der Moderne -- entgegengetreten ist, gehört sie nicht der antimodernen, prämodernen oder postmodernen Strömungen an, die seit den siebziger oder zu Beginn der achtziger Jahre in Erscheinung getreten sind. Denn einerseits war die Haupttradition der französischen Moderne nicht der Serialismus, sondern die Tendenz, die zur erneuten Konzentration auf den Klang führte, eine Tendenz, von der der Spektralismus ja gerade ausgegangen ist. Und andererseits hat die Frage der Moderne in Frankreich bestimmte Besonderheiten, denen wir uns jetzt zuwenden möchten.
Im Gegensatz zur Mehrzahl der anderen Länder hat Frankreich noch keine Opposition zur deutlich konstituierten Moderne entstehen sehen. Was aber nicht besagen soll, daß die Moderne hier immer noch aktuell ist. Man wohnt seit dem Ende der achtziger Jahre einem (allerdings sanften) Abschied von der Moderne bei. Erst in den allerletzten Jahren hat sich eine Auseinandersetzung um den Begriff der Moderne selbst abgezeichnet. Diese Auseinandersetzung ist (im Sinne der kritischen Theorie) ideologisch sehr belastet, denn der Begriff der Moderne selbst ist in Frankreich zu ideologischen Zwecken benutzt worden: vor allem in den Beziehungen der zeitgenössischen Musik zur politischen Macht.
Die Existenz der modernistischen Tradition ist für Frankreich ausgesprochen typisch, wenn es auch gleichsam eine Paradoxie des Nebeneinanders der beiden Begriffe “Tradition” und “Moderne” gibt. Diese Paradoxie verschwindet teilweise, wenn man das Wort “Tradition” vorübergehend durch den Ausdruck Kulturpolitik ersetzt. Zweifellos ist die außerordentliche Rolle, die der Staat spielt, und zwar auf allen Ebenen, eine französische Besonderheit. Die Musik, veritables Schaufenster eines noch heute hoch-zentralisierten Staates (trotz jüngster Forderungen nach Dezentralisierung), profitiert ganz besonders von der staatlichen Förderung/Überwachung.
Eine quasi-monopolistische Situation hat sich allmählich auch in der Musik nach 1945 abgezeichnet: das Monopol der Institutionen. Zweifellos profitieren die Komponisten von Aufträgen aus privater Hand; aber das französische Musikleben hat sich mehr und mehr in die Abhängigkeit von Institutionen begeben. Hier wäre in erster Linie Pierre Boulez zu erwähnen, dessen Rolle im französischen Musikleben detailliert analysiert werden müßte. [1] Allem Anschein zum Trotz hat er wenige Komponisten geprägt. Umgekehrt hat er zum großen Teil die soziale Elite geformt, die das Gros des französischen Publikums und der Hörer zeitgenössischer Musik bilden, und vor allem die Elite der französischen Musik-Verwaltung: Er hat zur Institutionalisierung der zeitgenössischen Musik beigetragen. Es gelang ihm nämlich nach einer turbulenten Laufbahn, zu Beginn der siebziger Jahre von der Unterstützung der politischen Macht (unter Präsident Pompidou) zu profitieren, die für ihn das IRCAM schuf. Das IRCAM besitzt folgende Besonderheit: Seit seiner Eröffnung (1975) bis heute stellt es sich als der universelle Ort der zeitgenössischen Musik dar, selbst wenn es nur einen winzigen Teil davon produziert und verbreitet. [2] Dasselbe gilt für andere Institutionen, die früher oder später entstanden sind als das IRCAM: der GRM (Groupe de Recherches Musicales, gegründet von Schaeffer), der CEMAMU (gegründet von Xenakis), der GRAME (Lyon) usw., wenn auch mit geringerem Universalitätsanspruch. Wenn Frankreich auch das Land der großen Individuen ist -- man denke daran, daß philosophische Reflexion das Werk vereinzelter Denker ist --, so ist es in der Musik doch das der großen Institutionen. In diesem Sinne -- und nur in diesem Sinne -- kann man von einer „Institutionalisierung“ der zeitgenössischen Musik sprechen.
Auf welche Weise haben diese Initiativen >privaten< Zuschnitts (von Schaeffer, von Boulez usw.) Institutionen entstehen lassen, die den Schein von Allgemeinheit haben und sich auf >öffentliche Nützlichkeit< berufen? Die Subvention musikalischer Werken, die ohne eine solche Kulturpolitik nicht existieren würden, legt die Vermutung nahe, daß der Staat darin seine Daseinsberechtigung sieht. Die öffentliche Legitimität dieser Institutionen rührt aus ihrer massiven Verstrickung in den Anwendungsbereich der neuen Technologien her. Damit ist eine weitere französische Besonderheit angesprochen: Eine gewisse Verspätung in der Industrialisierung ging Hand in Hand mit technologischer Spitzenforschung. Allgemeiner gesagt: Der Staat, der eine >Modernisierung< Frankreichs -- im ökonomischen Sinne des Begriffs -- predigt, hat sich der musikalischen Moderne bemächtigt, und die dient dann zur Legitimation einer katastrophalen politischen Ökonomie. Hinsichtlich der Musik selbst ist dabei eine Entwicklung hervorzuheben: In den Jahren 1950-80 ist das musikalische Schaffen immer mehr musikalische >Forschung< geworden. [3]
In den letzten Jahren haben sich Kritiker, die mit dieser paradoxen Situation der zeitgenössischen Musik auf Kriegsfuß stehen, allenthalben zu Wort gemeldet -- die Auseinandersetzung ist weitaus schärfer auf dem Gebiet der bildenden Künste, während sich diejenige um die Musik noch in den Anfängen befindet. Dennoch, und zweifellos deshalb, weil man sich die Analyse der staatlichen Verwendung der Moderne als Legitimationsplattform -- willentlich? -- erspart hat, wurde die künstlerische Moderne selbst aller möglichen Übel angeklagt. So hat man nicht nur von ihrer Institutionalisierung oder vom Auftauchen einer >akademischen Moderne< gesprochen, sondern umstandslos von einer Transformation in >offizielle Kunst<. Manche Autoren haben, in explizit revisionistischer Zuspitzung, sogar versucht, der modernen Kunst eine totalitäre Rolle anzudichten, indem sie die Geschichte umschrieben, um Verbindungen zwischen den Künstlern der Moderne und den totalitären (nazistischen oder stalinistischen?) Regimes zu erfinden. [4] Da man die ideologische Verwendung des Begriffs der Moderne im Frankreich der Jahre 1950-80 auch lange im Dunkel belassen hat, sollte eine Kritik der Moderne erst dann erfolgen, wenn die Begriffe geklärt sind. Sonst liefe sie Gefahr, bei ebensolchen (wenn nicht noch stärkeren) ideologischen Positionen anzulangen. Eben das aber scheint sich im Augenblick gerade zu vollziehen. Die erwähnten Kritiker treten gleichzeitig mit einer Entwicklung der Kulturpolitik des Staates in Abkehr von der zeitgenössischen Musik auf: seiner Tendenz zum Verschwinden. Der Staat zieht sich mehr und mehr zurück, auf ökonomischer (Minderung der “Subventionen”) ebenso wie auf administrativer Ebene (Machtverschiebung auf “territoriale Körperschaften” mit ziemlich häufiger totaler Gleichgültigkeit in der Sache).
So wird man seit kurzem Zeuge einer Neustrukturierung des Bereichs der zeitgenössischen Musik. Der französische Staat hat, nach Abschluß seiner (ökonomischen) Modernisierung, kein Bedürfnis mehr nach legitimierenden Vitrinen, die die künstlerische Moderne einstens für ihn waren. Das bedeutet keineswegs, daß die zeitgenössische Musik im Begriff ist zu verschwinden, selbst wenn diese Gefahr auf lange Sicht droht. Man verfügt gegenwärtig in Frankreich über eine bedeutende Zahl von Ensembles zeitgenössischer Musik, was auch eine größere Zahl von Konzerten bedeutet. Die Zahl von Personen, die sich als Komponisten bezeichnen, ist beeindruckend [5] ; aber nur eine Handvoll davon lebt vom Komponieren, und nur wenige erhalten Aufträge oder werden regelmäßig gespielt. Die Festivals zeitgenössischer Musik >laufen< relativ gut, aber die Epoche der großen Festivals ist vorbei: Es entwickelt sich die Idee regionaler Festivals. Umgekehrt hat es der Verlagsbereich eher schwer, ebenso wie die Produktion und der Vertrieb von CDs.
Die zeitgenössische Musik ist also nicht in ihrer Existenz selbst bedroht, sondern genötigt, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Der Akzent wird auf das Konzert und, allgemeiner noch, auf die lokale und kurzlebige Produktion gelegt. Das ist die Konsequenz des Umstands, daß der Staat sich herauszuhalten versucht: Die zeitgenössische Musik muß nach anderen: lokalen und punktuellen Geldquellen suchen: territorialen Gemeinschaftsveranstaltungen, Koproduktionen mit Körperschaften, die sich vorübergehend der zeitgenössischen Musik öffnen usw. Im Gegensatz zur Globalisierung, die in der Wirtschaft herrscht, neigt die zeitgenössische Musik zur >Lokalisierung<.
Für die Musik bringt das wenigstens zwei wichtige Veränderungen mit sich. Einerseits wird der Begriff der >Forschung< allmählich aufgegeben, allgemeiner gesprochen: jedes nur auf lange Sicht realisierbare und für die Alltagsproduktion unerhebliche Projekt. Stattdessen begünstigt das -- ähnlich wie in der Tradition das vollendete Werk im Blick -- eine Produktion, die, um sich als solche zu legitimieren, nur auf ihre Faktizität selbst, das heißt auf den quantitativen Aspekt zählen kann: Sie neigt also automatisch zur Überproduktion. Kurz, wenn man, um zu vereinfachen, die Moderne mit Habermas als “Projekt” definiert, ist es die Idee der Moderne selbst, die allmählich verschwindet. Andererseits sind die Komponisten und ihre künstlerischen Agenten verpflichtet, sich ein Publikum zu suchen -- während bei der Moderne die Unterstützung des Staates genügte --, nicht unbedingt, damit die moderne Musik rentabel wird, sondern damit sie sich bei ihren neuen Geldgebern legitimieren kann, die -- >Lokalität< verpflichtet -- die Existenz eines Publikums, und sei es eines winzigen, fordern. Mehr und mehr geht es darum, sich in die große Tradition der klassischen Moderne einzureihen. Um ihr Publikum zu erweitern, ist die zeitgenössische Musik im Begriff, sich ihren Quellen zuzuwenden und damit dem, was ihr >natürliches< Publikum hätte sein sollen. Sie träumt nicht mehr davon, sich ihr eigenes Publikum zu erobern noch -- wie das in den siebziger Jahren der Fall war -- sich dem Publikum der Populärmusik zu öffnen.
Seit dem Ende der achtziger Jahre beobachtet man zentrifugale Tendenzen: Unzählige Lösungsvorschläge sind gemacht worden, um >aus der Moderne herauszufinden<. Mit Sicherheit hat der postmoderne Diskurs à la française, dessen Initiator zweifelslos wider willen Lyotard war, diese Entwicklung ermutigt und sogar legitimiert, eine Entwicklung, die sich gleichsam als Öffnung hin zu einer Pluralität, einer Varietät, einer différance usw. versteht. So sehr das auch Wirklichkeit geworden ist, darf dennoch das Faktum nicht verdunkelt werden, daß diese zentrifugalen Tendenzen zwei Züge miteinander teilen, die wir aus der Analyse der gegenwärtigen politisch-ökonomischen Situation abgeleitet hatten: die Aufgabe der Idee der >Forschung<, die zu einer Rückkehr zum Handwerklichen, zur (Über)Produktion führt; und das Bestreben, sich erneut im Repertoire der klassischen Musik zu verankern.
Stellen wir jetzt also eine provisorische Typologie (die keine Homogenität aufweist) der wichtigsten neueren Tendenzen auf. Sie umfaßt vier Kategorien, die keineswegs berührungslos nebeneinander stehen.
Zunächst sind die Veränderungen der Beziehungen zu den neuen Technologien zu betrachten. In dem Maße, wie die Mehrzahl der neueren Komponisten, zu dem oder jenem Zeitpunkt, mit ihnen gearbeitet hat, ist die technologieorientierte Tendenz die am wenigsten homogene. Sie umfaßt manche Komponisten, die nur dieser Kategorie zuzurechnen sind. Das ist der Fall derer, die, in häufig engem Kontakt zu den Forschungszentren GRM (Paris), IMEB (Bourges), GRAME (Lyon), GMEM (Marseille), CIRM (Nizza) usw., sich weiterhin auf die elektroakustische Tradition berufen, selbst wenn sie gemischte Musik komponieren: Horace Vaggione (* 1943), Françoise Barrière (* 1944), Michel Chion (* 1947), Michel Redolfi (* 1951), Daniel Teruggi (* 1952), Christian Zanési (* 1952), Denis Dufour (* 1953), Jean-François Minjard (* 1953), Nicolas Vérin (* 1958), James Giroudon (* 1958), Serge de Laubier (* 1958), François Donato (* 1963). Gleichwohl ist die Idee einer >reinen< elektroakustischen Musik im Begriff, aufgrund der Rückorientierung des Interesses auf das gemischte Genre, auf die live electronic oder die Suche nach einer neuen Gestik, die eine Instrumentalisierung der Elektroakustik voraussetzt, zu >verwässern<. Der häufigste Fall ist derjenige von Komponisten, die nur gelegentlich die neuen Technologien in ihre Arbeit einbeziehen. Sie sind namentlich von der Philosophie des IRCAM geprägt worden, das von Anfang an eine Verbindung zur Tradition knüpfen wollte, das heißt zu einem instrumentenbezogenen Universum; sie kehren häufig, nach einem Durchgang durch das IRCAM, wo sie gemischte Werke komponiert haben, zur reinen Instrumentalmusik zurück: Weil der Besuch des IRCAM eine Art Konsekration ist, beginnen die Instrumentalensembles, dort Werke in Auftrag zu geben, womit eine (Über)Produktion einsetzt, die dazu bestimmt ist, das Repertoire dieser Ensembles zu füttern. Für die beiden großen Gruppen der erwähnten Komponisten ist die Rückkehr zur Idee des Werkes, unabhängig von seinem technologischen Stellenwert, manifest: In den letzten Jahren hat kein Komponist in Frankreich seine Musik mehr durch einen Bezug auf >Technologie< legitimiert. Dieses Phänomen erklärt sich aus ihrer Entwicklung selbst: Das gesuchte Ziel ist nicht mehr die >große Universalmaschine< [6] , sondern die Entwicklung spezialisierter Software oder informatischer Environments, die es dem Komponisten erlauben, unterschiedliche Software leicht und schnell zu handhaben. Gleichzeitig ist die Distanzierung der kompositorischen Praxis von technologischen Neuerungen auch eine Konsequenz der Aufgabe des Begriffs der >Forschung< (auf der Ebene der musikalischen Idee, denn die technologische Forschung an sich geht ja weiter): Weil kein Bedürfnis mehr besteht, sich durch ein Großprojekt zu legitimieren, kann die Technologie ganz und gar instrumentalisiert werden (als einfaches Werkzeug benutzt und als Ausdehnung der >natürlichen< Welt der Musik erlebt werden, wie sie die Instrumente bilden).
Die zweite Tendenz ist homogener: Sie umfaßt die Komponisten der >zweiten Generation< spektraler Musik, die direkt aus der ersten hervorgegangen sind oder, wenn auch unterschiedlich, deren Geist teilen, so Kaija Saariaho (* 1952), Philippe Hurel (* 1955), Pascale Criton (* 1954), Philippe Leroux (* 1959), Jean-Luc Hervé (* 1960), François Paris (* 1961), Marc-André Dalbavie (* 1961), Joshua Fineberg (* 1963), François Narboni (* 1963). Diese Generation schwankt zwischen einem >orthodoxen< Verhalten (Treue zu den Grundprinzipien des Spektralismus) und der Integration anderer Verfahrensweisen. [7] Sie wird durch zwei wichtige Merkmale charakterisiert. Das erste ist technischer Natur: eine Écriture mit Mikrointervallen. Die mikrotonale Projektion des Spektrums eines Klanges auf Maßstab und Umfang des Instruments hat zu einer Vereinheitlichung der spektralen Musik geführt (daher die Entstehung einer mikrotonalen Strömung im Frankreich der letzten Jahre). Das zweite gemeinsame Merkmal ist eine Ästhetik des Sinnlichen. Auf den Klang und seine Wahrnehmung ausgerichtet, bearbeitet jede Musik, die dem Spektralismus nahe steht oder aus ihm hervorgegangen ist, direkt oder indirekt die >Komposition< von Quasi-Sensationen. Ein weiterer gemeinsamer Zug mag diese Tendenz charakterisieren: der Umstand, daß der Spektralismus auch als eine Art Wegkreuzung fungieren konnte, die einen Rückgriff auf die Vergangenheit legitimierte -- und das beispielsweise Saariaho illustriert.
Eine weitere Tendenz, die sich mehr und mehr herauskristallisiert und aufgrund des damit einhergehenden Bestrebens, das Repertoire der klassischen Musik wieder einzubeziehen, zu dominieren beginnt, ist eine neoklassische Neigung oder, allgemeiner noch, eine Hinwendung zur Vergangenheit. Anfangs als eine Art Spiel mit Dekonstruktion(en) in Erscheinung getreten, hat diese Tendenz zuguterletzt die Rekonstruktion privilegiert. Sie umfaßt Komponisten, die bereits bemerkenswertes Ansehen genießen, so Markus Lindberg (* 1958), ein Finne, der von der Unterstützung durch das IRCAM profitiert und sich auf diese Weise einen Platz in der Geschichte der neueren französischen Musik gesichert hat. Auch die Entwicklung von Philippe Manoury (* 1952) geht in diese Richtung. Dasselbe ist der Fall bei Philippe Fénélon (* 1952) oder, wenn auch in geringerem Maße, bei Gérard Pesson (* 1958). Eine sehr repräsentative Gestalt für diese Entwicklung ist Pascal Dusapin. Seiner geistigen Herkunft nach >unabhängig< (er ist der einzige französische Komponist, der sich auf Xenakis zu berufen wagte!), ist Dusapin zum Symbol der Entwicklung der Musik in Richtung Kunsthandwerk geworden, die häufig Überproduktion erreicht. Aus diesem Grund neigen seine neueren Werke dazu, sich in “einer tiefen Anamnese neuen Typs aufzulösen, in der die Geschichte, im Modus des Wetterleuchtens erlebt, mit der Hypothese einer vergegenwärtigten Zukunft zusammengeht”. [8]
Die letztgenannte Tendenz war durch den Willen zur Öffnung in Richtung sogenannter >nichtseriöser< Musik charakterisiert: Populär-Musiken und/oder nicht-westliche Musiken usw. Obwohl Frankreich eines der Entdeckungsgebiete der world music gewesen ist, steht die >Szene< zeitgenössischer Musik hier der Idee von >Spaltungen< noch widerstrebend gegenüber. Deshalb ist diese Tendenz -- mit Komponisten wie Fausto Romitelli (* 1963), Frédérick Martin (* 1958) oder Martin Matalon (* 1958) -- zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch minoritär.
Die abschließend zu nennende Tendenz scheint die wichtigste zu sein: der Wille zur erneut bekräftigten Idee des Ausdrucks. Genaugenommen handelt es sich um einen Geisteszustand. Auf diffuse Weise zweifellos von der Mehrheit der Komponisten geteilt, wäre dieser Wille eines der allgemeinsten Merkmale der neuesten französischen Musik, wenn er nicht repräsentativ für die ganze zeitgenössische Musik auf internationaler Ebene wäre.
Dieser Geisteszustandes, der möglicherweise einen radikalen Wendepunkt im Verhältnis zur Moderne der vorhergehenden Jahrzehnte darstellt, ist in seinem historischen Kontext zu begreifen. Eine bestimmte musikalische Moderne der Jahre 1950-60 war -- zum Teil -- in eine Kunst mit formalistischer Tendenz eingemündet. Die heftige Kritik des Ausdrucks und des Subjekts, das sie charakterisierte, war zweifellos unerläßlich, um die Ambitionen dieses Subjekts zu mäßigen, das im 20. Jahrhundert mit dem Totalitarismus geflirtet hatte. Man mußte, nach Art des Marteau sans maître (Boulez), auf dem Wege über Forschungen zur „Struktur“ einen Ort der Dezentrierung ausfindig machen, an dem das Subjekt relativiert wurde. Gleichwohl haben diese Strukturen bedauerlicherweise schließlich mit anderen, weniger unschuldigen koinzidiert: den sozialen. Vielleicht ist die philosophische und musikalische Dezentrierung des Subjekts ja zuguterletzt mit den Strukturen einer vom Geschäftsgeist beherrschten Gesellschaft zusammengefallen. Daher das gegenwärtige Bedürfnis nach einer neuen Expressivität.
Die Wiederentdeckung von Expressivität kann mehrere Gestalten annehmen, die vom Protest bis zum schlichten Konsens reichen. Beim gegenwärtigen Stand der Dinge -- und weil das ein sehr heikles Thema ist -- möchte ich mich im Rahmen dieser Ausführungen auf die Feststellung beschränken, daß diese Restitution sowohl die soeben schematisch dargestellten wie auch andere Tendenzen betrifft, deren drei angeführt seien:
-- Eine kann die Form des Rückgriffs auf expressive Formen der Vergangenheit annehmen: Ich beziehe mich hier auf die Opernwelle, die seit der Mitte der achtziger Jahre Frankreich -- aber auch andere Länder -- überrollt. Man kann sie als eine Art Wiederverankerung der zeitgenössischen Musik in der großen klassischen Tradition analysieren (mit einer vergangenheitsbezogenen Technik wie bei Dusapin, Fénélon oder Manoury; als Stützung traditioneller Stile; und als Erfolgsverlangen, vor allem bei der Kombination Oper/neoklassischer Stil). Oder aber als eine Suche nach Ausdruck, da die Oper, trotz ihrer Vergangenheitsbezogenheit, dank ihrer Verbindung von Klang, Text und Bild >ausdrucksfreundlich< ist. In diesem Sinne träumen mehrere junge Komponisten von einer Oper neuen Typs, die besonders die neuen Technologien des Bildes einbezieht. Hier aber bremst die bereits erwähnte Trägheit der Institutionen wahrscheinlich ihren Schwung.
-- Bei den Komponisten, die aus der spektralen Strömung hervorgegangen sind, anfänglich nicht selten von einem >apersonale< Organizismus charakterisiert, ist eine Wiedereinführung der willentlichen Geste zu beobachten, die in Richtung einer neuen Expressivität geht (wie neuerdings bei Hurel oder Saariaho).
-- Die Entwicklung einiger deutlich aus dem Post-Serialismus hervorgegangenen Komponisten geht in die gleiche Richtung. Mit ihren letzten Werken suchen François Nicolas (* 1947), Philippe Schöller (* 1957), Antoine Bonnet (* 1958) oder Frédéric Durieux (* 1959) Expressivität wieder einzuführen.
“Die Generation unserer Väter hat da innegehalten, an der Schwelle einer neuen Idee von Syntax. ... Gegenwärtig müßen wir in der Tiefe weiter schürfen und entschlossen das reiche Potential, das vor uns erarbeitet wurde, herausfiltern und zu expressiven Zwecken nutzen” [9] , so Luca Francesconi (* 1956). Ein solcher Vorsatz gilt für eine große Zahl von Komponisten der jüngeren Generation. [10]
(Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen)
[1] Mit Ausnahme des Buches von Jésus Aguila (Le Domaine musical. Pierre Boulez et vingt ans de création contemporaine. Paris: Fayard 1992) existiert gegenwärtig keine objektive Untersuchung dieser Rolle.
[2] Cf. Georgina Born, Rationalizing Culture. IRCAM, Boulez and the Institutionalizing of the Musical Avant-Garde, Berkeley/Los Angeles: University of Texas Press 1995.
[3] Cf. Pierre-Michel Menger, Le Paradoxe du musicien, Paris: Flammarion 1982; Anne Veitl, Politiques de la musique contemporaine. Le compositeur, la “recherche musicale” et l’Etat en France de 1958 à 1991, Paris: L’Harmattan 1997.
[4] Vgl. für die bildende Kunst das widerwärtige Schriftchen von Jean Clair, La Responsabilité de l’artiste, Paris: Gallimard 1997.
[5] Das “Centre de Documentation de la Musique contemporaine” (Paris, Cité de la Musique) verweist gegenwärtig auf einen Kreis von 530 Komponisten.
[6] Wie die berühmte 4X, die zu Beginn der achtziger Jahre von Ircam entwickelt wurde.
[7] Cf. die Artikel von Anne Sédès, François Paris, Jean-Luc Hervé und Pascale Criton in der Zeitschrift Doce Notas Preliminares, Nr. 1, Madrid 1997.
[8] Jean Dupont, L’Originalité de Dusapin, in: Le Monde de la musique, Januar 1999, S. 29.
[9] Luca Francesconi, “Les Esprits libres”, in: La Loi musicale = Cahiers de Philosophie, Nr. 20, 1996, S. 19 (Kursivierung v. M. S.).
[10] Ich zitiere aufs Geratewohl einige Namen: Edmund Campion (* 1957), Suzanne Giraud (* 1958), Marc André (* 1964), José Manuel López López (* 1956), Alain Banquart (* 1934), Brice Pauset (* 1965), Stefano Gervasoni (* 1962), Xy Shuya (* 1961), Jacopo Baboni Schilingi (* 1971), Bruno Giner (* 1961), Jean-François Zygel (* 1960), Gérard Pape (* 1955), Jean-Claude Wolff (* 1946), Bernard Cavana (* 1951), Marx Monnet , Alain Gaussin (* 1943), Annette Mengel (* 1961), Thierry Pécou (* 1965), Francis Bayer (* 1934), Octavio López (* 1962), Thierry Blondeau (* 1961), Yan Marecz (* 1963), Horatiu Radulescu (* 1942), Nicolas Bacri (* 1961), Michèle Reverdy (* 1943), Marco Stroppa (* 1959), Karim Haddad (* 1962), Paul Méfano (* 1937), Yacen Vodenitcharov (* 1964), Denis Lavaillant (* 1952), Laurent Martin (* 1959), José Luis Cam-pana (* 1949), André Serre (* 1965), Philippe Hersant (* 1948), Régis Campo (* 1968), Elzbieta Sikora, Eric Tanguy (* 1968), Petros Korelis (* 1955), Edith Canat de Chizy (* 1950), Denis Cohen (* 1953), Jean-Marc Singier (* 1954), Alain Louvier (* 1945), Chen Qigang (* 1951).